1990: Eine Amts-Tierärztin bemerkt, dass die Rinder in einem großen Schlachthof ein auffälliges, krankhaftes Verhalten zeigen. Ihre Vorgesetzten messen den Beobachtungen der Ärztin wenig Bedeutung bei und geben die Tiere zum Verzehr frei. Die Ärztin fühlt sich nach ihrer Anzeige von vorgesetzter Stelle missverstanden und schikaniert.
Sie warnt öffentlich vor dem in Deutschland bis dato kaum bekannten Rinderwahnsinn BSE. Schließlich verliert sie nach fast 20jähriger Tätigkeit ihren Arbeitsplatz im Fleischhygieneamt. – Siehe dazu Deiseroth: Whistleblowing in Zeiten von BSE – Der Fall der Tierärztin Margit Herbst, 2001. Ihre Kündigungsschutzklage bleibt erfolglos, denn sie habe sich nach Auffassung des Gerichts zu wenig um eine interne Aufklärung der Vorfälle bemüht.
2011: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheidet, dass die fristlose Kündigung einer Berliner Altenpflegerin gegen das Recht auf Meinungsfreiheit (Art. 10 § 1 EMRK) verstieß. Der Klägerin wird ein Schadenersatzanspruch von rd. 15.000 € gegen die Bundesrepublik Deutschland zugesprochen, weil deren Gerichtsbarkeit die Kündigung als rechtens bestätigte.
Die Altenpflegerin hatte wegen grober Missstände in der Grundversorgung und Pflege, personeller Unterbesetzung nebst Abrechnungsbetrug Strafanzeige gegen den Arbeitgeber gestellt, einem großen Krankenhaus Konzern mit Beteiligung des Landes Berlin. Die Beteiligung der öffentlichen Hand war für den EGMR ein ausschlaggebender Punkt, hier ein besonderes öffentliches Interesse an der Bekanntmachung der Vorwürfe anzunehmen. Vor diesem Hintergrund bewertete deer EGMR die Meinungsfreiheit höher als das Interesse des Arbeitgebers, sich von einer unliebsamen Arbeitnehmerin zu lösen, auch wenn deren Kritik nicht in allen Punkten »hieb- und stichfest« war.
Die Hürden der »Whistleblower«
Gemeinsam ist beiden Fällen, dass die Arbeitnehmerinnen als »Whistleblower« auf sehr ernste Missstände hinweisen wollten, nur dabei nicht unbedingt offene Türen vorgefunden haben. Hinzu kommt, dass sie ihre Vorwürfe weder gerichtsfest noch lückenlos präsentieren konnten. Was nicht verwundert. Missstände zu benennen ist unbequem, bisweilen lästig. Sei es aus Bequemlichkeit oder bewährten Verflechtungen in Amtsstuben oder an Parteistammtischen, sei es aus »Kostenerwägungen« bei Wirtschaftsunternehmen – Missstände aufdecken erzeugt Missfallen.
»Whistleblower« und die Gerichte
In den Jahrzehnten zwischen den hier genannten Entscheidungen sind die Arbeitsgerichte, on top das Bundesarbeitsgericht (BAG), keinesfalls untätig geblieben. Die Arbeitsgerichtsbarkeit hat ein differenziertes und »gerecht« zu nennendes System herausgearbeitet, wie mit »Whistleblowern« umzugehen ist. Dabei steht immer das Bemühen um interne Klärung an erster Stelle. Der Gang an die Öffentlichkeit oder gar eine Strafanzeige sollte demnach als letztes Mittel vorsichtig abgewogen werden. Nur leider reicht das – im Ergebnis – nicht aus. Mit den in beiden Fällen angezeigten Missständen sind von der Sache her schwerste Vorwürfe verbunden, und dies fast immer gegen höhere Vorgesetzte.
Die Forderung, dass solche Vorwürfe bewiesen werden, ist naheliegend. Das gebieten die Verfahrensregeln nach Zivilprozessordnung (ZPO) und Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) und ein verständliches Schutzbedürfnis gegen Denunziation. Nur, dieser Gedanke ist unrealistisch. Die kritisierten Missstände geschehen häufig im Verborgenen und lassen sich oft schwerlich dokumentieren. Es läuft deshalb darauf hinaus zu fordern, »Whistleblower« müssen die Mauern durchdringen können, die sich an Widerständen vor ihnen auftürmen.
»Compliance« und »Whistleblowing«
Es soll mittlerweile Unternehmen geben, welche »Compliance« ernsthaft betreiben und wo die Geschäftsleitung die mit »Compliance« verbundene Nachhaltigkeit erkannt hat. Die oben beschriebenen Probleme lassen sich innerbetrieblich mit Regularien von »Compliance« und Arbeitsrecht differenziert lösen. Für derartige Fälle kann beispielsweise eine Vertrauensperson benannt oder Hotline installiert werden. Es ist insbesondere zu regeln, was eine freiwillige Selbstbelastung für Konsequenzen hat, wenn nämlich ein Mitarbeiter Missstände meldet und damit zugleich eigenes Fehlverhalten gesteht.
- Siehe dazu auch den Artikel Compliance und Arbeitsrecht -
Arbeitgeber und Direktionsrecht
Der Arbeitgeber hat im Rahmen seines Direktionsrechts weit reichende Möglichkeiten, die Arbeitnehmer, beim leitenden Angestellten angefangen, nach Missständen zu befragen. Der Mitarbeiter ist durchaus verpflichtet, aus seinem Arbeitsbereich umfassende Auskünfte zu geben, selbst wenn er damit eigene Fehler eingestehen muss. Der strafrechtliche Grundsatz, dass niemand sich selbst belasten muss, gilt im Arbeitsrecht nur eingeschränkt. Andererseits ist der Arbeitgeber darauf angewiesen, dass seine Mitarbeiter konstruktiv mitwirken. Bei der Aufdeckung von Missständen ist es nicht förderlich, wenn Mitarbeiter aus Angst vor negativen Konsequenzen mauern. Hierbei lassen sich durchaus »goldene Brücken bauen« für diejenigen, welche sich mit ehrlichen Aussagen selbst belasten würden. Arbeitsrechtliche Möglichkeiten dazu gibt es vielfältig. Ein solches Projekt kann am Ende sogar die viel beschworene »Corporate Identity« enorm stärken. Wenn der Personalleitung oder dem Compliance Manager dazu nichts einfallen mag: Vorbilder aus den USA gibt es reichlich, sie müssen nur an unser Rechtssystem angepasst werden.
Whistleblower-Gesetz
Last but Not least: Hilfreich wäre es, wenn der Gesetzgeber eine Regelung über »Whistleblower« wie den immer mal angekündigten § 612b BGB schaffen würde, oder jetzt sogar ein eigenständiges »Hinweisgeberschutzgesetz« unter Einbeziehung von Bundesbeamten, einer wohl besonders schutzbedürftigen Spezies. Dies basiert auf früheren Reformideen und wird nun schon einige Jahre diskutiert. Na, immerhin.